Betriebsbücher » Schnellzuglok Magdeburg 483

Die Schnellzuglok Magdeburg 483 der vormaligen Braunschweigischen Staatsbahn.
(Aus Tripod und Geocities von 2002 reaktiviert)

Heute wollen wir uns mit einer alten, längst vergessenen Lokomotive befassen, die zu einem 1870 erbauten Lieferlos von 5 Maschinen der Firma Egestorff, Hannover gehört. Die Braunschweigische Staatsbahn hatte im Zeitraum 1865 bis 1874 insgesamt 34 einander ähnliche Lokomotiven der Achsfolge 1Bn2 mit innenliegendem Triebwerk beschafft, zu diesen zählt auch unsere spätere Magdeburg 483 mitsamt ihrer Schwestern.

Zunächst zur Bauform. Mit 1830 mm Treibradduchmesser (Bombe nennt 1873, die Reichsstatistik 1892 gar 1883 mm) handelt es sich um echte Schnellzugmaschinen, die einhundert und mehr Stundenkilometer erreicht haben dürften. Charakteristisch ist der Doppelrahmen mit Innenzylindern und Innensteuerung Bauart Allan. Während alle Achsen im Außenrahmen gelagert sind, besitzt die (mittlere) Treibachse zusätzlich Lager am im Bild nur andeutungsweise erkennbaren Innenrahmen, der auch die beiden Zylinder nebst Schieberkasten trägt. Beide Antriebsachsen haben in den Radstern eingenietete Gegengewichte und sind durch außenliegende Kuppelstangen mittels Kurbeln verbunden. Oberhalb der drei Achsen sehen wir die auf dem Außenrahmen abgestützten Blattfedern mit Einstellhülsen. Eine für preußische Verhältnisse äußerst seltene Konstruktion. Im Foto ebenfalls deutlich sichtbar der gestützte Stehkessel mit seinen starken Streben vor der hinteren Kuppelachse als auch die Befestigung seiner Rauchkammer vorn an Innen- und Außenrahmen. Der Feuerrost mit erheblicher Neigung zur Rohrwand hin besitzt vorn einen Kipprostteil[1], er liegt oberhalb der hinteren Kuppelachse. Auf dem zweiten Kesselschuß befindet sich in der Ursprungsversion (vergleiche Skizze) ein hoher Dom mit aufgebautem Sicherheitsventil. Ein zweites Ventil Bauart Wöhler, später Ramsbottom modifiziert ist auf dem Stehkessel plaziert. Die Treibachsen sind oberhalb des Umlaufes durch Radkästen verkleidet, wobei der hintere weit ins kurze Führerhaus hineinragt. Das Führerhaus selbst entspricht mit seinen oben abgerundeten Seitenfenstern und vielen Handstangen dem damaligen Stil der Braunschweigischen Bahn. In seiner Vorderwand sehen wir zwei ovale drehbare sowie zwei feste Fenster nahe des Kesselsicherheitsventils. Zum einseitigen Besanden der Treibachse befindet sich auf dem Umlauf direkt am vorderen Radkasten ein Sandbehälter. Die Lokomotivräder bleiben ungebremst. Kurz oberhalb des Umlaufes verläuft die Steuerstange zu den Zylinderventilen. Der typische um 1870 übliche dreiachsige Tender (im Bild leider nicht sichtbar) ergänzt die Ausrüstung. Dem Verfasser unklar bleibt der über das Führerhausdach hinweg in Richtung Tender verlaufende Hebel, den auch andere Lokomotiven der Braunschweigischen Staatsbahn vorweisen. Möglicherweise ist er Teil der Notleinenvorrichtung im Zug, die dazu dient, im Gefahrenfall Signale an das Lokpersonal abgeben zu können.

Unser Foto zeigt jedoch nicht die ursprüngliche Ausführung wie die Skizze, sondern Lok 483 mit 1890 aufgebautem Ersatzkessel aus der Hauptwerkstatt Buckau[2]. Dessen Dom liegt auf dem dritten Kesselschuß, also unmittelbar vor dem Stehkessel und trägt oben das charakteristische Schmiergefäß für den Regler. Gut erkennbar die am Kessel entlanglaufende Speiseleitung vom im Führerhaus oben befindlichen Injektor zum Speiseventil oberhalb der Laufachse. Ein zweiter Injektor ist ebenfalls im Führerhaus aber für uns als Betrachter nicht sichtbar oben lokführerseitig angebaut. Am Domfuß sehen wir das Anstellventil für den Hilfsbläser, dessen Zuleitung oberhalb der Handstange bis hin zur Rauchkammer verlegt ist. Ganz vorn schließlich die beiden Petroleumlaternen auf der recht schwach ausgebildeten Pufferbohle, oben an der nach preußischen Normalien ausgebildeten Rauchkammertür der Halter für das Sondersignal[3]. Am Kessel selbst erkennen wir unmittelbar vor dem Führerhaus die große Waschluke, davorliegend fünf Queranker zur Befestigung der Feuerbüchse, sowie oben auf der Stehkesseldecke eine weitere Waschluke. Nicht ersichtlich ist, ob unsere Maschine über eine Druckluftbremse verfügt, da sich deren Luftpumpe gewöhnlich auf der uns abgekehrten Lokführerseite befindet.

Die Lokomotiven des Bauloses Egestorff (später Hanomag) 1870:

Name bei Nummer Fabrik- Heimat-Station ausgemustert Bemerkungen
Braunschweigischer bei KED Nummer am 01.07.1892
Staatsbahn[4] Magdeburg

SYBILLENORT 480 [5] 498 Goslar 1904 [6]
HARZBERG 481 499 Oschersleben 1893
STREITBERG 482 500 Holzminden 1893
BULK 483 501 Goslar 1905 [7]
DRÖMLING 484 502 1891


Interessant auch die Beschilderung nach den Vorschriften vom 01.04.1883 (Aktenzeichen IIa 3785 und 3791) und 01.07.1883 (Aktenzeichen IIa 7245/Va 488): Vorn an der Rauchkammer das Betriebsnummernschild „483 Magdeburg“ aus Rotguß, Fabrikschild am Radkasten der Treibachse, Adlerschild am Führerhaus, darunter befindet sich die kleine eckige Tafel mit dem Eigentumsmerkmal[8]. Über den Anstrich unserer Lokomotive können wir nichts sagen. Eigentlich müßte sie den grün-schwarz-roten Regelanstrich nach preußischen Normalien tragen, möglicherweise aber auch den ab 01.04.1884 verfügten vereinfachten Anstrich (Lok völlig schwarz, Triebwerk rot) für „nicht normale“ Maschinen bei der KED Magdeburg. Das Lichtbild narrt uns: Wie in vielen Fällen geben die alten Glasplatten dunkelgrün als schwarz wieder, da die fotografisch aktive Schicht für grünes Licht äußerst unempfindlich war[9].

Hauptabmessungen der Lokomotiven Magdeburg 480 und 483:
Die Abweichungen diverser Daten zwischen den einzelnen Quellen kommen nicht nur bei diesen Maschinen vor. Eine wirklich plausible Erklärung hierfür hat sich bislang nicht finden lassen. Die Unterschiede bei den Treib- und Laufraddurchmessern könnten auf unterschiedlich starke Radreifen zurückzuführen sein.

ursprünglich[10] Reichsstatistik 1880 Reichsstatistik 1892 für Ersatzkessel
für alten Kessel Lok 480[11] Lok 483

Beschaffungspreis: 64.134,- RM 57.089,- RM 57.095,- RM
Gesamtachsstand: 10.411 mm 10.408 mm 10.408 mm
Länge über Puffer[12]: 13.091 mm 14.075 mm 14.075 mm
Radstand der Lok: 4.572 mm 4.572 mm 4.572 mm 4.572 mm
Treibraddurchmesser: 1.830 mm 1.829 mm 1.883 mm 1.883 mm
Laufraddurchmesser: 1.145 mm 1.145 mm 1.197 mm 1.197 mm
Dienstgewicht: 35,32 t 35,32 t 37,30 t 36,50 t
Reibungsgewicht: 24,02 t 24,02 t
Wasservorrat Tender: 8,26 m3 8,80 m3 8,80 m3 8,80 m3
Kohlevorrat Tender: 3,16 t 4,50 t 4,50 t 4,50 t
Heizfläche: 94,99 m2 94,99 m2 89,76 m2 95.43 m2
Rostfläche: 2,08 m2 2.08 m2 1,86 m2 2,08 m2
Rohrlänge: 3.454 mm 3.454 mm 3.420 mm 3.454 mm
Zahl der Heizrohre: 187 157 189
Kesseldruck: 9 atü 9 atü 12 atü 12 atü
Zylinderdurchmesser: 432 mm 432 mm 432 mm 432 mm
Kolbenhub: 559 mm 559 mm 559 mm 559 mm

Nun zum Einsatz der 483 und ihrer Schwesterlok. Während drei von ihnen zwischen 1891 und 1893 ausgemustert werden, haben zwei (Magdeburg 480 und 483) Ersatzkessel erhalten und bleiben bis nach 1900 im Betrieb. Über die Heimat-Betriebswerke und Wirkungsstätten wissen wir ausgesprochen wenig. Kein einziges altes Betriebsbuch ist erhalten geblieben. Für den 1. Juli 1892 kennen wir die Standorte, sie liegen noch immer im alten Einzugsbereich der Braunschweigischen Bahn. Die beiden Lok mit Ersatzkessel stehen in Goslar und dürften nach wie vor zur Bespannung von Schnellzüge verwendet worden sein. Im versuchsweisen Gattungsplan der KED Magdeburg vom 01.06.1892 erscheinen sie als P1[13]. Während die im Jahre 1903 auf Magdeburg 201 umgezeichnete[14] und erst 1904 ausgemusterte 480 im Magdeburger Gruppenzeichenplan vom 01.04.1903 (laut Verfügung des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten 03/5200 II Bl. 18 bis 23) nicht enthalten ist, gehört unsere Magdeburg 483 unter Gruppe S 0! Freilich ist auch dieses Gruppenzeichen nicht am Fahrzeug angeschrieben. Es zeigt aber deutlich, daß die Maschine auch nach 1900 zumindest noch im Eilzugdienst - vermutlich im Raum Goslar - tätig ist. Aufgrund des Innentriebwerks ist ihr Lauf selbst bei hoher Geschwindigkeit sehr ruhig, der Ersatzkessel mit 12 atü Druck bringt sie in den Leistungsbereich der Normallok S1. Sicherlich im sparsamen Preußen Grund genug, sie trotz ihrer außergewöhnlichen Bauform solange wie möglich im Betrieb zu halten. Ihr Leben endet 1905, vermutlich war eine innere Untersuchung fällig, die nun nicht mehr genehmigt wird[15]. Zu einer Zeit, als genügend Normallok der Gruppen P4 zur Verfügung stehen, trennt sich die Direktion Magdeburg von den Maschinen. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Innentriebwerke einen großen Nachteil haben: Sie sind verbaut und schlecht zu unterhalten. Unsere 483 dürfte durch eine neugelieferte beziehungsweise umbeheimatete P4 oder S3 ersetzt worden sein. Außer einem einzigen Lichtbild ist nichts von ihr geblieben.

Zum Abschluß noch ein Wort zu den damals in Preußen üblichen stark zur Rohrwand hin geneigten schmalen aber langen Rosten. Die Altvorderen haben sich etwas gedacht dabei! Nach Anlegen des Grundfeuers sind solche Roste nicht wie heute üblich beschickt worden, sondern man gab die Kohle ausschließlich an die Türwand. Die flüchtigen Bestandteile konnten so gut ausgasen, man vermied Qualm, die Steinkohle verschwelte und verkokte. Nach und nach - nicht zuletzt durch die Erschütterungen während der Fahrt - rutschte die frisch aufgeworfene Kohle nach vorn, brannte dabei gut ab, wobei die nicht brennbaren Bestandteile als Asche in den Aschkasten rieselten. An der Rohrwand wurde stets eine hohe Kohleschicht gehalten, die auch den Zweck hatte, größere Temperaturschwankungen von dieser Wand fernzuhalten. Wurde die Kohleschicht an der Rohrwand zu hoch, nahm der Heizer das Schürgerät zur Hand und zog die Kohle Richtung Tür zurück. Diese Feuerungstechnik war im ganzen Lande überaus bewährt. Man verbrannte beste Steinkohle in großen Brocken, die hohe Temperaturen bei langer Brenndauer entwickelte. Einige Lok, wie die hier beschriebenen, besaßen an der Rohrwand einen Kipprost, über den Schlacke und Ascheansammlungen zu Betriebsende entfernt werden konnten.

Verwendete Quellen:

* „Statistik der im Bau und Betriebe befindlichen Eisenbahnen Deutschlands“ 1880 und 1892.
* Amtliches Nachrichenblatt des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten 1878 bis 1906.
* Erlasse, Verfügungen und Mitteilungen des EZA Berlin 1907 bis 1926.
* „Die Entwicklung der Lokomotive 1835 bis 1880“ (R. Helmholtz, W. Staby).
* Unterlagen H. Bombe, H. Rauter und Fr. Schadow (Lokverzeichnisse der preuß-hessischen Direktionen).
* Unterlagen aus dem Privatarchiv des Verfassers.




[1] Für damalige Verhältnisse äußerst fortschrittlich und noch kaum verbreitet. Selbst bei der Deutschen Reichsbahn wurden Kipproste - allerdings ganz anderer Bauform - erst ab 1924 und jetzt auch nur nach und nach zur Regel.
[2] Die Hauptwerkstatt Buckau hat zwischen 1870 und 1927 in mehreren Einzählungen über 100 Kessel selbst gebaut. Dies jedoch als legendär darzustellen, wie in der Literatur schon mehrfach geschehen, ist überzogen. Nicht wenige andere Werkstätten, vor allem in Württemberg, haben gleiche Zahlen gefertigt, einige sogar weit mehr. Kesselbleche und Armaturen wurden - wie bei den Lokfabriken auch - zugeliefert, die Werkstätten selbst haben die Bleche zu Kesselteilen umgearbeitet, diese miteinander vernietet und schließlich Armaturen und Zurüstteile angebaut. Insofern war die Fertigung eines Kessels sogar weit einfacher als etwa die eines Radsatzes oder Radreifens.
[3] Es handelt sich nicht um das Dreilichtspitzensignal, wie immer wieder behauptet! Sondersignale wurden beispielsweise bei Fahrt auf falschen Gleis oder zur Signalisierung eines nachfolgenden Sonderzuges verwendet.
[4] Die Braunschweigische Eisenbahn (Staatsbahn) wurde zum 01.04.1885 an Preußen verstaatlicht. Am gleichen Tage ist eine KED Braunschweig eingerichtet, die bereits ein Jahr später - zum 01.04.1886 - wieder aufgelöst und zum Betriebsamt Braunschweig der KED Magdeburg umgewandelt wird.
[5] Ab 1903 Magdeburg 201 in zweiter Besetzung.
[6] Lok geliefert 10.1870. Ersatzkessel Hanomag Hannover 1890/01324 mit 12 atü Kesseldruck.
[7] Lok geliefert 12.1870. Ersatzkessel Hauptwerkstatt Buckau 1890/23 mit 12 atü Kesseldruck.
[8] Diese Tafeln sind mit Aktenzeichen IIa 3791 zum 01.04.1883 eingeführt worden. Auf der Tafel die Abkürzung der Vorgängerbahn bzw. bei vom Staate verwalteten Privatbahnen die Abkürzung dieser Bahn. Im vorliegenden Fall ist leider unklar, was auf der Tafel steht, vermutlich B.E.B. oder B.S.B.
[9] Um 1900 gab es ausschließlich sogenannte orthochromatische Fotoplatten, die zwar blaues und rotes Licht einigermaßen exakt in Graustufen übersetzten, aber nicht grünes. Daher erscheint nicht nur Lokomotivgrün, sondern auch Laub der Bäume in den Aufnahmen viel zu dunkel.
[10] Laut Verzeichnis der Locomotiven der Braunschweigischen Staatsbahn (Helmholtz, Staby).
[11] Deutlich ist erkennbar, daß die Ersatzkessel der beiden Lok 480 und 483 aufgrund ihrer verschiedenen Hersteller unterschiedliche Maße, Rohrspiegel usw. haben. Dies ist typisch für viele der alten nicht normalen Lokomotiven in Preußen, aber auch bei allen anderen Länderbahnen.
[12] Mit dreiachsigem Tender.
[13] Es gibt nur die Gattungen P1 bis P3, G1 bis G4 und T1 bis T6. Eine Unterscheidung der Schnell- von den Personenzuglok erfolgt nicht. Die Gattung steht an den Lok jedoch nicht angeschrieben.
[14] Was wohl dazu bewogen haben mag, diese und nur diese Lok auf Nummerngruppe ab 201 umzuzeichnen, bleibt unklar.
[15] Angenommen, es hat keine außerplanmäßigen Untersuchungen geben, wären fällig gewesen: 1. äußere Unt. 1893, zweite äußere Unt. 1896, erste innere Unt. 1898, nächste äußere Unt. 1901, nächste innere Unt. 1904. Es kann als einigermaßen sicher angenommen werden, daß unsere Lok Magdeburg 480 bis 484 lebenslang von der Hauptwerkstatt Braunschweig betreut werden. Von hier dürfte auch die Initiative zur Ausmusterung unserer Lok 483 ausgegangen sein.